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9. November 2018, Bundesregierung.de: Interview mit Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland

Interview mit Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland, auf den Seiten der Bundesregierung zum 9. November 2018

Artikel auf den Seiten der Bundesregierung
AMCHA Deutschland unterstützt die psychosoziale Hilfe für Überlebende der Shoah und ihre Nachkommen in Israel. Außerdem organisiert sie Veranstaltungen zur Erinnerung, ihre Projekte werden unter anderem gefördert vom Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für Gesundheit. Ihr Vorsitzender Lukas Welz, selbst Jahrgang 1986, spricht über die Nachwirkungen der Shoa, die bis heute und über Generationen andauern.

Welche Rolle spielt der 9. November in Ihrer Arbeit?

Lukas Welz: Insbesondere für die deutschen Überlebenden steht der 9. November für den Anfang vom Ende, ist das Symbol für die Novemberpogrome. Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt waren bereits vorher Teil ihres Alltags und ihrer Erfahrungen eines Lebens in Deutschland. Doch die brennenden Synagogen, Geschäfte und Wohnungen waren nur das Zeichen der totalen Vernichtungsphantasien Deutschlands. Freundinnen und Freunde, Eltern und andere Angehörige und Bekannte wurden verhaftet, ermordet oder verschwanden spurlos.

Der Umgang mit diesem Datum – in der deutschen Geschichte ja ein sehr ambivalenter Gedenktag – kann auf die Möglichkeiten, die damit verbundenen traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, einwirken. Wenn etwa, wie in diesem Jahr, eine rechtsextreme Partei in Berlin zu einem Gedenkmarsch für die “Opfer deutscher Politik” aufruft, dann kann das Bilder der historischen Erfahrungen wieder hervorrufen.

Ihre psychosoziale Arbeit beschränkt sich nicht auf Shoah-Überlebende, denn auch ihre Nachkommen leiden unter dem Trauma. Wie kann man sich das vorstellen?

Lukas Welz: Ich denke jeder kann aus der eigenen Erfahrung nachvollziehen, dass die Familie in jeder Hinsicht ein zentraler Sozialisierungspunkt in einem Leben ist – sowohl ein harmonischer Alltag, wie auch, wenn er zerstört wurde. Hier können Gefühle und Schmerzen sowie Verhaltensmuster weitergegeben werden: Ängste, etwa vor Schritten im Hausflur oder Klopfen an der Tür, werden dann unbewusst an die Kinder weitergegeben, die mit diesen Ängsten der Eltern aufwachsen.

Traumata vergehen ja nicht und können auch nicht einfach wie eine Krankheit behandelt werden. So wirken sich auch die Erfahrungen nach dem traumatisierenden Ereignis darauf aus, ob und wie man ein Trauma verarbeiten kann. Etwa wenn man nicht als Opfer anerkannt wird. Das hat ja in Deutschland auch Jahrzehnte gedauert. Oder wenn man fortdauernde Diskriminierungserfahrungen machen musste und ausbleibende Teilhabechancen hatte, weil man als Kind die Bildungsmöglichkeiten nicht bekommen hat. Manche leben in sozialer Not, weil die körperliche Schwäche und seelische Leiden sich auf die Berufsmöglichkeiten ausgewirkt haben.

Und schließlich belegen neuere Untersuchungen, dass traumatisierende Erlebnisse epigenetische Veränderungen herbeiführen können, die dann an die Nachkommen vererbt werden. Das heißt dann nicht, dass die traumatisierende Situation selbst vererbt wird, es aber eine stärkere Anfälligkeit für Ängste und Belastungsstörungen geben kann.

Wie verstehen Sie in Zeiten aussterbender Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Verantwortung der nachfolgenden Generationen, an die grausamen Verbrechen zu erinnern?

Lukas Welz: Jüdische Traditionen sind aufgrund der jahrtausendealten Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung stark von der Erinnerung und der kulturellen Tradierung der Gewalterfahrungen geprägt. Es ist vor dem Hintergrund der kulturellen Tradierungen von Gewalt und Ausgrenzung umso wichtiger, zu verstehen, dass traumatisierende Erfahrungen alle prägen und betreffen können, nicht nur Angehörige von Überlebenden der Shoah.

Im deutschen Kontext hieße das etwa: Was sind denn meine eigenen familienbiographischen Verstrickungen mit dem 9. November, mit der Shoah, mit dem Nationalsozialismus? Welche Prägungen habe ich durch meine Eltern und Großeltern erfahren? Kennen wir nicht alle uns unbewusst vermittelte Vorurteile und können diese unmittelbar abrufen? Wie gehen wir damit um?

In einem Appell Überlebender der Shoah von 2009 stellen Vertreterinnen und Vertreter von Opferverbänden ernüchternd fest: “Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt.” Und das stimmt sowohl für die Shoah als Gewalterfahrung, als auch für den Umgang mit den Menschen, die die Shoah überlebt haben. Was macht es mit Menschen, die jahrzehntelang auf Anerkennung und Hilfe warten mussten? Welche Perspektiven auf das Leben und die Gesellschaft vermitteln sie ihren Kindern und Enkelkindern? Das sind Fragen, die auch für die jüngeren Generationen eine hohe Relevanz haben.

Wie unterscheidet sich das Engagement zwischen Alt und Jung, jüdischen und nichtjüdischen Menschen?

Lukas Welz: Heute kann man nicht nur auf ein breites historisches Wissen über die Shoah zurückgreifen. Auch bieten Medien, Filme, Bücher, Apps oder Gedenkstätten vielfältige Möglichkeiten, mehr über diese Zeit zu erfahren. Nichtjüdische Erinnerungsarbeit wirkt vor allem, indem sie eine Gemeinschaft der Solidarischen bildet. Das ist ganz wichtig auch für die Überlebenden, die damit Anerkennung erfahren. Denn die Bearbeitung des Traumas muss gesellschaftlich begleitet werden – eine rein klinische Bearbeitung reicht nicht aus.

Zentral ist uns als selbst noch junger ehrenamtlicher Vorstand die Vermittlung, dass die Vergangenheit der Shoah nicht Geschichte ist, sondern Teil der Gegenwart. Über 20.000 Menschen suchen jährlich Hilfe bei AMCHA in Israel, eine Zahl, die sich verdoppelt hat in den letzten zehn Jahren. Einerseits rückt die Zeit des NS in immer weitere Ferne, andererseits sind Familienbiografien von Menschen in Deutschland durch Migration oft nicht mehr direkt mit dieser Zeit verbunden. Deswegen müssen wir neue Wege finden, die Lehren aus der Shoah zu vermitteln und kritisch zu würdigen.

Wir können neue Allianzen schaffen, die etwa Menschen mit Migrationserfahrung einbezieht, für Emanzipationsbewegungen unterschiedlicher marginalisierter Gruppen eintritt – etwa Sinti und Roma in Deutschland – oder in das ganz eigene, persönliche Umfeld geht. Auch ein größeres Selbstbewusstsein einer jungen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gehört da für mich dazu.

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