Gemeinsames Pressestatement mit RIAS Berlin zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome
Der Umgang der Gesellschaft mit der Vergangenheit der Überlebenden ist essentiell für die Möglichkeiten der Bearbeitung der Traumata. Erfahrungen und Erinnerungen aus der Zeit der Verfolgung prägen ein Leben lang. Welche Auswirkungen haben gegenwärtige Erscheinungen von Antisemitismus und die Berichterstattung darüber für Überlebende der Schoa?Zur Bewertung und Einordnung antisemitischer Vorfälle mit Bezug zur Schoa und zu Überlebenden erklären:
Martin Auerbach, klinischer Leiter von AMCHA Israel:
„Für die Betroffenen sind Vorfälle wie diese real erlebte Gewalt. Aber auch für Überlebende in Israel können antisemitische Vorfälle in der Heimat der Vorfahren Traumata reaktivieren und zusätzlich belastend auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen einwirken. Gerade im Alter können die Einsamkeit, ausbleibende Beschäftigung und der Rückblick auf das Leben dazu führen, dass traumatisierende Erfahrungen stärker ins Bewusstsein rücken.“
Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland:
„Die Novemberpogrome sind besonders im Gedächtnis der deutschen Überlebenden der Schoa präsent. Erlebte Gewalt, Versteckt sein, Identitätsverluste sind nur einige der Erfahrungen, die schon Kinder zur Zeit der Verfolgung machen mussten und ihre Identität bis heute prägen können. Wie gesellschaftlich mit diesen Erfahrungen umgegangen wird, ist entscheidend für die Bearbeitung der Traumata. Auf der individuellen Ebene können Schoa-relativierende Äußerungen in Europa für Überlebende in Israel Traumata reaktivieren. Alte Ängste werden dann gegenwärtig, Erinnerungen können so dominant werden, dass sie die Überlebenden immer wieder zum mentalen Durchleben der grausamen Erfahrungen aus der Schoa zwingen.“
Benjamin Steinitz, Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin:
„Seit Beginn der Arbeit von RIAS Berlin werden immer wieder Vorfälle gemeldet, die Schoa-Überlebende oder ihre Nachkommen betreffen. Neben zahlreichen gezielten Sachbeschädigungen an Erinnerungsorten für die Opfer der Schoa trifft Antisemitismus in Form von Schuldabwehr und Schoa-Relativierungen ebenso Jüdinnen und Juden in ihrem alltäglichen Leben, beim Einkaufen, in der U-Bahn. Mit solchen alltagsprägenden Erfahrungen dürfen Betroffene nicht allein gelassen werden.“
Auswahl gemeldeter Vorfälle mit Bezug zur Schoa und Überlebenden:
Berlin, April 2015:
Eine Schoa-Überlebende wurde auf dem Heimweg von der Synagoge in der U-Bahn angefeindet. Aus einer Gruppe Jugendlicher wurde sie laut und verächtlich mit „Schabbat Schalom“ angesprochen, leicht geschubst und angerempelt sowie bedrohlich angeschaut.
Berlin, 29. August 2015:
Ein Schoa-Überlebender und sein Sohn wurden am Pariser Platz von Teilnehmenden einer antiisraelischen Kundgebung als „Kindermörder“, „Terroristen“ und „Nazis“ beschimpft und geschubst. Im folgenden Gespräch wurde ihnen vorgeworfen, dass sie „die deutsche Geschichte bis heute ausnutzen“ würden.
Berlin, 23. Januar 2017:
Der Zentralrat der Juden in Deutschland erhielt einen antisemitischen Brief, in dem der_die Absender_in um die Weiterleitung an eine öffentlich bekannte Schoa-Überlebende bat. Im Brief wurde an mehreren Stellen die Schoa geleugnet, zudem enthielt der Text zahlreiche antisemitische Beleidigungen und Verschwörungsmythen.
Berlin, 20. Juni 2017:
Bei einer Veranstaltung zum Leben in Israel an der Berliner Humboldt-Universität wurde die Schoa-Überlebende Dvora Weinstein von einem Mann angesprochen: „Gerade Sie als eine Holocaust-Überlebende sollten sich schämen, hier zu sitzen und zu rechtfertigen, dass Israel das Gleiche den Palästinensern antut was Ihnen angetan wurde“.
Leipzig, 23. Juli 2017:
Bei einem Flohmarkt in Leipzig erlebten ein junger Mann und seine Mutter, Nachkommin von einem Schoa-Überlebenden, wie ein Mann behauptete, dass es die Schoa nicht gegeben habe und von einer „Holocaust-Keule“ sprach. Mehrere Umstehende verteidigten die antisemitischen Positionen, die man als „andere Meinungen“ akzeptieren müsse.
Leipzig, 17. Oktober 2017:
Während einer Interviewaufzeichnung von MDR „Exakt“ am Synagogen-Denkmal in Leipzig liefen zwei Männer vorbei, von denen einer den Hitlergruß zeigte. Der Interviewte Rolf Isaacsohn, Ehrenvorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig und Schoa-Überlebender, erzählte nach dem Vorfall, dass er schockiert sei und „innerlich zittere“.