
Heute, am 7. Oktober, gedenken wir der Opfer der brutalen Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023. Die schrecklichen Bilder und Ereignisse dieses Tages bleiben unvergessen. Unsere Gedanken sind bei bei den Angehörigen, die ihre Liebsten verloren haben, und bei den Geiseln, die noch immer in Gefangenschaft sind.
Aus diesem Anlass haben wir ein Gespräch mit Dr. Dror Golan, dem klinischen Leiter von AMCHA Israel, geführt. Das Interview wurde auf Englisch geführt und für die Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt.
Heute jährt sich der brutale Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel zum zweiten Mal. Die Welt ist seither nicht mehr dieselbe. Was hat sich in der Arbeit von AMCHA seitdem verändert?
Die Ereignisse des 7. Oktober markierten einen tiefen Bruch – nicht nur in der israelischen Gesellschaft, sondern auch im emotionalen Erleben vieler Holocaust-Überlebender, ihrer Nachkommen und vieler anderer Menschen in Israel. Bei AMCHA haben wir diesen Bruch unmittelbar gespürt. Unsere therapeutische Arbeit musste sich sehr schnell ausweiten, um Tausende von Menschen zu erreichen, die vom Krieg betroffen waren. Wir haben unsere Angebote angepasst, um verstärkte Traumata, Isolation und Trauer aufzufangen. Am deutlichsten hat sich die Dringlichkeit verändert: Trauma war nicht länger eine Erinnerung – es wurde zu einer neuen Realität, die sich über die alte gelegt hat.
Welche neuen Bedarfe und Herausforderungen sind seitdem hinzugekommen?
Seit Beginn des Krieges sehen wir einen alarmierenden Anstieg von Angst, Panik und Retraumatisierung – insbesondere unter älteren Überlebenden, die vertrieben wurden oder Angehörige verloren haben. Viele können unsere Zentren körperlich oder emotional nicht mehr erreichen und benötigen Hausbesuche. Gleichzeitig erleben wir neue Gruppen in akuter Not: trauernde Großeltern, die Enkel im Krieg verloren haben und oft ohne jede Form von Unterstützung dastehen. Auch unsere Therapeut:innen, die selbst vom Krieg betroffen sind, arbeiten mit großer Hingabe weiter. Als Organisation ist es uns ein zentrales Anliegen, die emotionale und professionelle Unterstützung für unsere Therapeut:innen zu stärken.
Welche Gefühle und Themen bringen die Menschen derzeit in die AMCHA-Zentren? Wie reagiert AMCHA darauf?
Für viele unserer Patient:innen hat der 7. Oktober das grundlegende Gefühl zerstört, dass Israel ein sicherer Ort, ein Zuhause des Schutzes und der Zugehörigkeit sei. Für Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen wurde auch das innere Gefühl von Sicherheit erschüttert – jenes psychologische „Zuhause“, das sie über Jahre der Heilung wieder aufgebaut hatten.
Alte Ängste tauchen auf: das Gefühl, verfolgt zu werden, die Erfahrung des Ausgeliefertseins, die Angst vor dem Schweigen der Welt. Auch viele jüngere Patient:innen kommen mit tiefer Trauer und Hilflosigkeit zu uns. AMCHA bietet ihnen einen sicheren, stabilen Raum – durch Psychotherapie, kreative Gruppenarbeit und soziale Begegnung. Wir begegnen jedem Menschen dort, wo er steht – mit Kontinuität und Präsenz.
Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf ältere Holocaust-Überlebende aus? Was bedeutet sie für bereits bestehende Traumata?
Für viele Überlebende hat der Krieg ein ohnehin fragiles Sicherheitsgefühl zutiefst erschüttert. Sirenen, Raketen, Bilder des Schreckens – all das ruft lange verdrängte Erinnerungen wach. Der Verlust von Routine, die Angst, vergessen zu werden, und die erneute existenzielle Bedrohung verstärken die Schmerzen alter Traumata. Viele Überlebende, die über Jahre stabil waren, benötigen nun wieder intensive psychologische Betreuung. Gleichzeitig spenden manche von ihnen selbst Hoffnung – etwa, wenn sie sagen: „Wir haben die dunkelsten Schrecken überlebt, Familien und ein Land aufgebaut. Auch aus dieser Zerstörung kann Neues entstehen.“
Wie können Therapeut:innen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, wenn die äußeren Umstände so bedrohlich bleiben?
Wir können keine äußere Sicherheit versprechen – aber wir können “relationale Sicherheit” bieten. Unsere Therapeut:innen sind verlässlich präsent, hören zu, halten aus und würdigen sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart. Wir greifen auf jahrzehntelange Trauma-Expertise zurück, um Patient:innen zu helfen, Schmerz zu verarbeiten, innere Stärke wiederzufinden und selbst in dunklen Zeiten Sinn zu erkennen. Außerdem vermitteln wir praktische Werkzeuge, um mit akuter Angst und Belastung umzugehen. Unsere Zentren – und die Hausbesuche – sind zu kleinen Inseln der Fürsorge, der Kontinuität und des Vertrauens geworden.
Wie können Menschen in Deutschland AMCHA in dieser Zeit unterstützen? Wofür werden Spenden besonders benötigt?
Ihre Unterstützung macht einen großen Unterschied. Spenden ermöglichen uns Hausbesuche bei Überlebenden, die unsere Zentren nicht erreichen können. Sie finanzieren therapeutische Gruppen für trauernde Großeltern, die bisher durch das offizielle Hilfssystem fallen. Sie sichern die Betreuung unserer Teams, die täglich die emotionale Last anderer tragen – durch Supervision, Fortbildungen und psychologische Unterstützung. Und sie helfen, dass unsere Überlebenden-Clubs lebendige Orte des Austauschs, der Erinnerung und der Begegnung bleiben – inklusive Transport für jene, die sonst isoliert wären. Jede Spende stärkt unsere Fähigkeit, für die Menschen da zu sein, die uns am dringendsten brauchen – mit Fürsorge, Präsenz und Resilienz.
Wie geht es Ihnen persönlich – mit der Verantwortung, AMCHAs klinische Arbeit in dieser Zeit zu leiten?
In diesen Zeiten spüre ich oft das Gewicht der Verantwortung, die mit meiner Rolle einhergeht – zu wissen, wie viele Menschen auf uns angewiesen sind, auf Stabilität, Mitgefühl und Begleitung. Gleichzeitig empfinde ich auch ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit. Teil einer Organisation zu sein, die Heilung und Sinn in die Welt bringt – gerade, wenn Dunkelheit so spürbar ist – bewegt mich zutiefst. Jede einzelne helfende Handlung schafft eine Welle des Guten und erinnert mich daran, dass Schmerz nicht weitergegeben werden muss. Er kann sich verwandeln – in Empathie und Verbundenheit. Das schenkt mir Hoffnung.