Pressemitteilung zum 27. Januar 2020
Unterstützungsleistungen für Überlebende des Holocaust bleiben auch 75 Jahre nach der Befreiung eine Notwendigkeit. Mit Hilfe von Psychotherapien, sozialen Aktivitäten und Hausbesuchen durch die Selbsthilfeorganisation AMCHA wird den oft schwer traumatisierten Menschen ermöglicht, im Alter ein würdevolles Leben zu führen. Bundespräsident Steinmeier besucht das AMCHA-Zentrum in Jerusalem und trifft dort Überlebende des Holocaust.
„Gerade im Alter werden die traumatisierenden Erinnerungen zur Belastung, wenn das soziale Netz schwächer wird, die Einsamkeit zunimmt, Partner und Freunde sterben. Die Folgen können schwere Depressionen, soziale Isolation und Angstzustände sein,“ erklärt Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland e.V., einer Organisation, die die Hilfe von AMCHA in Israel seit über 30 Jahren unterstützt.
„Wer lebt noch, der meine Erfahrungen teilt?“ Giselle Cycowicz, die Auschwitz überlebte und mit ihren 92 Jahren bis heute bei AMCHA mit anderen Überlebenden therapeutisch arbeitet, befällt noch heute zuweilen dieses besondere Gefühl der Einsamkeit, von dem so viele Überlebende der Shoah berichten: Man fühlt sich einsam, weil man sich nicht verstanden fühlt. Viele der überlebenden Opfer sehnen sich danach, Jemanden zu haben, der die Gefühle und Gedanken nachvollziehen kann, die auch 75 Jahre nach der Befreiung und all den durchlittenen traumatisierenden Erfahrungen präsent sind.
Obwohl selbst Therapeutin, ist auch für Giselle Cycowicz das Beisammensein mit Leidens- und Erfahrungsgefährtinnen mehr als eine therapeutische Sitzung. Sie fühlt sich verstanden durch die Erfahrungswelt, die sie mit den anderen teilt. Die Beratungsstellen von AMCHA sind deshalb nicht einfach nur Orte professioneller Hilfe, sondern gleichsam soziale Rettungsinseln: die psychosoziale Unterstützung fußt auf Anerkennung und Gemeinschaft der Betroffenen.
So erklärt sich auch die auffallende Zunahme an Unterstützungsbedarf: Die Zahl von114.290 Therapiestunden im Jahr 2009, ist innerhalb von zehn Jahren auf 245.489 Stunden angestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt. Im letzten Jahr konnte AMCHA 8.725 Überlebende des Holocaust mit Therapien und sozialen Aktivitäten unterstützen. Die meisten haben als Kinder überlebt und sind heute zwischen 75 und 91 Jahre alt.
„Ihr Leben ist geprägt von den traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend. Auch in den nächsten zwanzig Jahren werden Menschen, die den Holocaust überlebten, auf Hilfe angewiesen sein. Diese humanitäre Verantwortung dürfen wir vor dem Hintergrund der schwindenden Zeitzeugenschaft gerade in Deutschland nicht vergessen. Und: die Bearbeitung oft schwerster Traumata des Holocaust ist eine Gegenwartsfrage und wird es bleiben, zumal diese innerhalb ihrer Familien oft über Generationen hinweg spürbar bleiben. Der Holocaust wirkt bis heute auf den Alltag vieler Überlebender und ihrer Familien nach. Ihr Schicksal sollten wir bei allem Gedenken an die Vergangenheit nicht vergessen“, betont Lukas Welz weiter.
Am 22. Januar 2020 wird Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier das AMCHA-Zentrum in Jerusalem besuchen und dort unter anderem die Überlebende Dr. Giselle Cycowicz treffen. Er wird auf seiner Reise anlässlich des World Holocaust Forums in Yad Vashem am 23. Januar 2020 von Lukas Welz begleitet.
AMCHA – Zahlen und Fakten 2019
1987 als Selbsthilfeorganisation von Überlebenden des Holocaust in Israel gegründet, die erkannten, dass sie und ihre Familien spezialisierte Hilfsangebote benötigen, die in der Gesundheitsversorgung bis dahin nicht beachtet wurden.
Amcha (Hebräisch: Dein Volk, sinngemäß: eine/r von uns) Der Begriff wurde schon zur Zeit der NS-Verfolgung von Juden benutzt, um sich untereinander zu erkennen zu geben.
17.233 Menschen wurden 2019 durch AMCHA in Psychotherapien und sozialen Aktivitäten in Israel unterstützt, um trotz ihrer teils schweren Traumatisierungen ein würdevolles Leben führen zu können. Das sind fast doppelt so viele Betreute, wie noch vor zehn Jahren.Von ihnen sind 10.470 Menschen Überlebende des Holocaust (60,75%) und 730 Menschen Angehörige der Folgegenerationen. Die übrigen Klientengruppen sind traumatisierte Hilfesuchende anderer Kontexte (6.033 Menschen).
Die Zahl der Therapiestunden stieg von 114.290 Stunden (2009) auf 245.489 Stunden (2019).
Auch der Anteil der Therapien, die bei den Klienten stattfinden muss (zu Hause, in Krankenhäusern, Altenheimen, Hospizen) stieg im Zehnjahresvergleich (2009: 19%, 2019: 28%).
6,5 % der Hilfesuchenden sind Kinder von Überlebenden, die als Folge der Weitergabe von Traumata ebenfalls psychosoziale Betreuung benötigen.