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“Ich kann nicht hassen”: Nachruf auf Pnina Katsir (1930-2025)

Von Lukas Welz

Am 9. Juni 2025 ist Pnina Katsir gestorben. Sie wurde 95 Jahre alt. Ich schreibe diesen Nachruf mit schwerem Herzen und großer Dankbarkeit – für das, was sie mit uns geteilt hat. Und für das, was sie war: eine Frau voller Liebe, ein Mensch, dessen Gegenwart etwas zum Schwingen brachte.

Ich habe Pnina bei AMCHA kennengelernt. Ihre Stimme war leise und doch hatte sie ein Gewicht, das man nicht vergisst. Ihre Geschichten, ihre Sätze, ihre Bilder – sie waren wie ein tiefes Echo aus einer Welt, die sie überlebt hatte, in der so viele andere untergegangen sind.

Geboren wurde Pnina Melzer 1930 im rumänischen Siret. Als Kind floh sie mit ihrer Familie vor den Faschisten nach Czernowitz, dann wurde sie ins Ghetto gesperrt, schließlich nach Dzhurin in Transnistrien deportiert – ein Ort, den sie später „ein Paradies“ nannte, „weil man uns nicht tötete – man ließ uns nur sterben, an Hunger, an Kälte.“

Sie hat als Kind Dinge erlebt, die kein Mensch je erleben sollte. Der Großvater, dem man im Winter alles nahm und der erfror. Die Großmutter, die lebendig in ein Massengrab geworfen wurde. Die Typhus-Epidemie im Ghetto, der Hunger, die Angst. „Die Menschen starben wie die Fliegen“, erinnerte sie sich. Und doch überlebten alle neun Familienmitglieder mütterlicherseits – vor allem, weil sie einander hielten.

Lange Zeit hat Pnina darüber geschwiegen. „Alles war hier drin gefangen wie ein Stein“, sagte sie über ihre Erinnerungen. Erst Jahrzehnte später, bei AMCHA, begann sie zu sprechen. Und mit jedem Wort wurde spürbar: Hier sprach eine Frau, die nicht nur die Shoah überlebt hatte, sondern deren Leben selbst zur Antwort auf das Grauen geworden war. „Ich kann nicht hassen“, sagte sie einmal. „Mein Leben ist viel zu schön, um es mit Hass und schlechten Gedanken zu verbringen.“

Was sie sagte, war von einer stillen, schmerzhaften Klarheit. „Ich war zwölf“, erzählte sie, „und zu meiner Bat Mizwa wünschte ich mir ein ganzes Brot, nur für mich. Und meine Familie, die neun Personen, aß an diesem Tag nichts, um mir das zu schenken. Und ich konnte es nicht essen. Ich sagte: ‚Teilt das.‘“

Nach der Befreiung durch die Rote Armee kehrte sie mit ihrer Familie nach Czernowitz zurück. Dort begann sie, sich in der zionistischen Jugend zu engagieren. Mit 16 versuchte sie, Palästina zu erreichen – das Boot wurde von den Briten abgefangen, Pnina ein Jahr lang auf Zypern interniert. Doch als sie endlich in Haifa an Land ging, sagte sie: „Hier beginnt mein Leben.“

Und sie lebte: mit Licht im Haus, mit Tanz und Lachen. „Bei mir war es immer lustig“, sagte sie. Und das stimmte – Pnina hatte einen klugen Humor, einen wachen Blick, eine außergewöhnliche Wärme. Sie war politisch bewusst und gesellschaftlich engagiert. Menschen, auch viele Überlebende der Shoah, fanden in ihrer Nähe Trost und Heimat.

Pnina hat mit einem unglaublichen Sinn für Menschlichkeit gelebt. Mit einer unerschütterlichen Würde. Und mit dem tiefen Wunsch, Frieden zu ermöglichen – im Kleinen wie im Großen. „Wenn man uns erlaubt, Frieden zu machen – mir und dir – machen wir das in fünf Minuten“, erzählte sie von einem Palästinenser, mit dem sie Freundschaft schloss.

Bei AMCHA fand sie spät im Leben einen Raum, in dem sie nicht nur erzählen, sondern auch lachen, tanzen, malen, kochen, jiddisch sprechen konnte. AMCHA wurde ihr zweites Zuhause. Dort hat sie, wie sie sagte, zum ersten Mal wirklich verstanden, was sie all die Jahre mit sich herumgetragen hatte.

Und auch ihre alltäglichen Rituale erzählten von der Vergangenheit: das Brot im Kühlschrank, das Licht in jedem Raum. „Vier Jahre waren wir im Finstern. Und bei mir im Kühlschrank findest du sehr viel Brot. Ich muss sicher gehen, dass Brot da ist.“ Der Hunger war nie ganz fort. Auch nicht das Überleben.

Pnina war für mich – und für viele andere – eine Lehrerin des Lebens. Ohne Pathos, ohne große Worte. Aber mit jeder Geste, mit jeder Erinnerung. „Ich liebe das Leben, ich liebe Menschen. Ich sehe das Menschliche in jedem“, hat sie gesagt. Und das war kein Satz – es war ihr gelebtes Vermächtnis.

Pnina, du fehlst. Aber du bist da – in uns, in deinen Worten, in deiner Stärke, in deinem Licht. Möge Dein Andenken ein Segen sein.

Foto von Pnina Katsir aus dem Dokumentationsprojekt „Leben nach dem Überleben“ der Fotografin Helena Schätzle, die eine enge Freundin von Pnina geworden ist.

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