Lukas Welz, Vorsitzender
Heute haben wir Stimmen gehört – zerbrechliche, klare, unersetzliche Stimmen –, die die Erinnerung an die Shoah tragen. Doch wir haben nicht nur aus der Vergangenheit gehört. Wir haben aus der Gegenwart gehört. Denn Erinnerung gehört nicht allein der Vergangenheit. Sie lebt unter uns. In Geschichten. In Schweigen. Im Körper. In Institutionen. In Generationen. Und manchmal – wie jetzt – kehrt sie zurück, nicht als Reflexion, sondern als Erfahrung. Achtzig Jahre nach der Befreiung der Überlebenden der Shoah leben wir in einer Welt, in der sich diese Vergangenheit wieder nah anfühlt. Manchmal unerträglich nah.
Die Gewalt des 7. Oktober 2023 war nicht nur ein Terrorakt. Sie hat in vielen jüdischen Gemeinschaften etwas aufgerissen: alte Ängste, alte Erinnerungen, tiefe, ungelöste Fragen nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Plötzlich fühlten sich Erfahrungen, die der Vergangenheit angehören sollten, wieder vertraut an – verfolgt sein, schutzlos sein, allein sein. Und wir müssen uns erinnern: Befreiung war kein eingelöstes Versprechen. Sie war für viele Überlebende ein Anfang ohne Rückkehr. Die Tore der Lager wurden geöffnet – aber was dahinter lag, war Ungewissheit, Leere, Schweigen.
Norbert Wollheim schrieb: „Wir sind gerettet, aber nicht frei.“ Das Ende der Verfolgung bedeutete nicht das Ende des Schmerzes. Befreiung stellte nicht wieder her, was verloren war – Familien, Heimat, Zukunft. Sie machte sichtbar, was genommen worden war. Diese Widersprüchlichkeit müssen wir aushalten: Befreiung brachte Atem – aber keine Heilung. Anwesenheit – aber kein Ankommen.
Regina Steinitz, die die Shoah versteckt in Berlin überlebte, beschrieb einmal, wie sie nach dem Krieg auf einem Schiff nach Israel stand. Sie weinte, als die israelische Flagge gehisst wurde. Sie sagte: „Das war ein Moment, den jeder Mensch braucht. Das Gefühl, dazuzugehören. Zu Menschen zu gehören. Zu einem Land. Ich stand unter Fremden – und fühlte mich doch auf dem Weg nach Hause.“ Heute lebt sie in Tel Aviv – und ist heute hier unter uns. Von ihrem Fenster aus sieht sie die Lichter der Stadt – und die Lichtspuren von Raketen. Sie sagt: „Wir haben einen geschützten Raum. Wenn das Haus zerstört wird, bleibt der Raum bestehen.“ Der Raum bleibt. Aber die Gewissheit nicht.
Die Vergangenheit ist nicht vergangen, wenn sie in Form von Sirenen und Trauer zurückkehrt. Wenn sie in Körperreaktionen widerhallt. Wenn Kinder sich verstecken. Wenn Überlebende – wieder – nicht schlafen können. Die Therapeut*innen von AMCHA sprechen von einem Zusammenbruch der Zeit. Davon, dass Erinnerung Realität wird. Dass sich Trauma nicht durch Geschichten, sondern durch Ereignisse reaktiviert. Zu denen, die heute Hilfe suchen, gehören: ja, Überlebende der Shoah – aber auch Menschen, die aus Kibbutzim fliehen mussten, die Tote beerdigten, das Schlimmste miterlebten, ihre Heimat, ihre Familien, ihre Orientierung verloren.
Und wir müssen fragen: Was bedeutet Erinnerung in diesem Moment? Denn die Frage lautet nicht mehr nur: Wie erinnern wir? Sondern auch: Wie halten wir aus? Wie sorgen wir für Erinnerung, wenn sie schmerzt? Wie halten wir sie aus, wenn sie überwältigt? Für Überlebende ging es nie nur ums Erinnern. Es ging immer darum, wie man mit Erinnerung lebt. Das gilt heute – für ihre Kinder. Für viele von uns.
Ich möchte drei Gedanken anbieten. Erstens: Erinnerung muss schwierig bleiben dürfen. Sie darf nicht vereinfacht, nicht zu Lehren gemacht werden. Sie darf nicht auf Rituale reduziert oder zur Inspiration gezwungen werden. Erinnerung ist schmerzhaft. Sie ist ungelöst. Sie ist widersprüchlich. Wir müssen sie in ihrer Komplexität halten. Das heißt: Lasst Überlebende sprechen – auch wenn ihre Wahrheiten unbequem sind. Fragt nicht nach Abschluss, wenn Wunden offen bleiben.
Zweitens: Erinnerung muss individuell wie kollektiv getragen werden. Die Shoah ist nicht nur Geschichte. Sie war ein Bruch. Ihre Spuren bleiben – in Körpern, in Familien, in der Art, wie Menschen vertrauen oder schweigen, wie sie Angst an ihre Kinder weitergeben. Wir müssen beide Ebenen unterstützen: die individuelle Erinnerung an das Trauma und die kollektive Erinnerung an die Verantwortung. Erinnerung braucht Beziehungen. Sie braucht Vertrauen. Sie braucht Präsenz. Und sie braucht Fürsorge, die Grenzen überschreitet.
Deshalb arbeiten AMCHA Israel und AMCHA Deutschland seit fast vierzig Jahren zusammen. Was als Solidarität unter Überlebenden begann, ist zu einer tragfähigen Struktur des Vertrauens geworden. Die Partnerschaft zwischen Israel und Deutschland trägt eine schwierige, aber notwendige Wahrheit: Trauma kann nicht isoliert behandelt werden – und Deutschlands Verantwortung als Land der Täter endet nicht mit dem Gedenken. Sie umfasst Fürsorge. Sie umfasst Finanzierung. Sie umfasst Zuhören. Und sie umfasst: da sein – auch wenn es unbequem ist. Diese Verbindung ist kein Symbol. Sie ist eine Brücke. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen Erinnerung und Fürsorge. Zwischen denen, die die Wunden noch tragen, und denen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen.
Drittens: Erinnerung muss unser Handeln prägen. Das Versprechen „Nie wieder“ wird nicht einmal gegeben. Es wird immer wieder gegeben – darin, wie wir Menschen schützen, wie wir Generationen bilden, wie wir Hass widerstehen. Heute fühlen sich viele jüdische Menschen wieder unsicher. Nicht hypothetisch. Nicht im übertragenen Sinn. Sondern konkret. Täglich. Erinnerung wird geprüft, wenn Antisemitismus wieder wächst. Und wir müssen ehrlich sein: Erinnerung ohne Handeln ist Dekoration.
Dieser Moment ist voller Widersprüche. Wir leben in Gesellschaften mit ausgeprägten Erinnerungskulturen – und doch: Antisemitismus wächst. Wir bauen Denkmäler – und bieten keinen Schutz. Wir bilden auf – und trotzdem sind Überlebende nicht sicher. Erinnerung schützt nicht – wenn wir es nicht tun.
Was also nun? Vielleicht beginnen wir damit, nicht wegzusehen. Zu bleiben. Mit dem Unbehagen. Mit dem Widerspruch. Mit denen, die Erinnerung in ihren Körpern tragen – nicht nur in Büchern. Erwarten wir nicht Hoffnung – bieten wir Anwesenheit. Erwarten wir nicht Klarheit – bieten wir Fürsorge. Erwarten wir nicht Heilung – bieten wir Solidarität.
„Amcha“ bedeutet auf Deutsch: Du gehörst zu uns. Lassen wir das nicht nur ein Name sein – sondern ein Versprechen. Du gehörst zu uns – wenn du Schmerz trägst. Wenn deine Erinnerung zurückkehrt. Wenn die Angst zurückkehrt. Du gehörst zu uns – wenn du sprichst. Wenn du trauerst. Wenn du überlebst. Lassen wir Erinnerung nicht bei wenigen. Teilen wir sie, leben wir Erinnerung, praktizieren wir Erinnerung.
Vielen Dank.
So haben wir 2024 Überlebende der Shoah und ihre Nachkommen in Israel unterstützt:
– 4.100 Überlebende der Shoah und 700 Nachkommen von Überlebenden
– 116.000 Therapiestunden
– 110.000 Euro Spendengelder aus Deutschland, das entspricht etwa 1.200 Therapiestunden!