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Aachen, 15.1.2019: Die Ambivalenzen der Moderne – Eröffnungsrede von Lukas Welz

Ein Beitrag von Lukas Welz zu Europa, der Moderne und der Shoah

Im Vertrag von Aachen, den Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Macron an diesem Montag, 21. Januar 2019 unterzeichnen, soll anknüpfend an den Élysée-Vertrag die deutsch-französische Freundschaft bekräftigt und erneuert werden. In Aachen ist derzeit unsere Ausstellung “Leben nach dem Überleben” zu sehen, die aus Sicht der Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen die Wirkung von Vergangenheit auf Gefühle, Erinnerungen und Traumata vermittelt.

In seiner Eröffnungsrede sagte Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland:

“Die Shoah war ein europäisches Projekt, ein Projekt der Moderne. In unseren Ohren klingt das absurd, ja eigentlich unerhört und gar relativierend.
Gerade in einer Stadt wie Aachen, die sich wie kaum eine zweite Stadt in Deutschland als europäisch versteht, muss diese Aussage irritieren.

Und doch müssen wir uns vor Augen führen: „Europa“ und „Moderne“, ja selbst Begriffe wie „Antisemitismus“ waren vor nicht allzulanger Zeit anders gemeint.

Europa in seiner Vielfalt, das war in den Augen der Nationalsozialisten und damit wohl der Mehrheit der Deutschen damals ein zu beherrschendes, ein zu unterdrückendes Stück Welt, das nach NS-Ideologie zu formen sei.

Indem man eine neue Gesellschaft, einen neuen Menschen, ein neues Europa auf der Grundlage rassistischer, antisemitischer Ideologie schaffen wollte, sah sich der Nationalsozialismus auch als fortschrittliche, als moderne Ideologie.

Die Moderne in dieser Lesart trat nicht zuletzt in die auf perfide Weise ausgereiften Überlegungen zur massenhaften Tötung von Menschen zutage.

Und so war Antisemitismus in den Augen seiner Anhängerinnen und Anhänger auch eine positiv besetzte Ideologie, die sich in Form von Vereinen und Parteien schon lange vor der Herrschaft des NS in der deutschen Gesellschaft organisierte.

Wenn wir heute also in dieser durch und durch europäischen Stadt diese Ausstellung eröffnen, dann müssen wir uns den Ambivalenzen des 20. Jahrhunderts bewusst sein.

Diese Ambivalenzen waren es schließlich, die die Menschen, die wir in dieser Ausstellung porträtierten, vor, während und nach der Shoah direkt erlebten und überlebten.”

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