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5. Oktober 2015: 25 Jahre AMCHA Deutschland

Seit 25 Jahren unterstützt AMCHA Deutschland Überlebende des Holocaust und ihre Familien in Israel. Dieses Jubiläum haben wir mit einer Podiumsdiskussion zum Umgang mit Traumatisierten der Shoah begangen. Neben der Überlebenden und AMCHA-Therapeutin Dr. Giselle Cycowicz diskutierte der klinische Leiter von AMCHA, Dr. Martin Auerbach, der Bundestagsabgeordnete der Grünen und Träger des Leo-Baeck-Preises 2015, Volker Beck sowie der Traumaexperte Prof. Dr. David Becker über die Herausforderungen für Schwersttraumatisierte und die gesellschaftlichen Folgen im Umgang mit ihnen vor dem Hintergrund der Shoah und gegenwärtiger Konflikte und Kriege. Die Moderation hatte Dr. Daniel Friedrich Sturm, leitender Politikredakteur der Zeitung DIE WELT.

Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland e.V., fragte in seiner Eingangsrede, welche individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen wir aus den Schicksalen der Überlebenden gezogen haben. „Die Geschichten der Überlebenden berühren uns. Es berührt uns, wenn wir ihren persönlichen Leidensgeschichten zuhören dürfen. Doch 70 Jahre nach ihrer physischen Befreiung und 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland müssen wir uns fragen: Berühren sie uns auch soweit, dass wir daraus politische und gesellschaftliche Konsequenzen gezogen haben? In einem Vermächtnis stellten Überlebende 2009 ernüchtert fest, dass die Welt nicht zu Frieden und Gerechtigkeit gefunden habe, wie sie es sich nach ihrer Befreiung so sehr wünschten und wofür sie kämpfen wollten. Viele zeigen sich heute entsetzt, wie die gesellschaftliche und politische Gegenwart mit Schutzsuchenden in Europa umgeht, wie Zäune errichtet und Hass und Gewalt den Traumatisierten entgegenschlagen. Heute ist ihre ökonomische und gesundheitliche Situation oftmals dramatisch: Sie leben unter Armut, können sich Arztbesuche nicht leisten oder bekommen keine Therapiestunden erstattet. Wie sehr berühren sie uns also wirklich, die Überlebenden? Wie sehr berühren sie uns als Gesellschaft und Politik? Welche Hilfe leisten wir? Wie würdig können sie ihr Leben gestalten? Sie sind weder die Opfer, noch die Helden, als die wir Sie häufig sehen, wenn wir sie in Filmen oder ritualisierte Gedenken würdigen wollen. Sie sind Menschen, die lebensstark sind und dafür Unterstützung brauchen.“

Die Überlebende des Holocaust Dr. Giselle Cycowicz ist bis heute in Jerusalem als Therapeutin von AMCHA bei der Betreuung Schwersttraumatisierter aktiv. Als Überlebende weiß sie sehr genau, mit welchen individuellen Herausforderungen viele der Klientinnen und Klienten von AMCHA zu kämpfen haben. „Nach der Befreiung fielen viele von uns über Jahre in eine Depression: Wir hatten keine Träume, keinen Boden unter den Füßen. Der Tag der Befreiung war für mich ein Trauma. Man sagte uns: Ihr seid frei, ihr könnt dorthin gehen, wohin ihr wollt. Alle wollten nach Hause, aber ein Zuhause existierte nicht mehr. Keine Familie, kein Heim, das einem Geborgenheit gegeben hätte. Wo sollten wir schon hingehen wollen? Ich sah mich um und dachte, nur ich sei verrückt. Doch auch die anderen waren angespannt, keiner freute sich. Viele Holocaustüberlebende werden krank vor Einsamkeit. Das kann bis zum Wunsch nach Selbstmord führen. Die Einsamkeit ist das größte Problem der alten, traumatisierten Menschen. Als wir mit AMCHA anfingen, wussten wir nichts über die Behandlung von alten Menschen. Wir haben uns auf unser Herz verlassen und von den älteren Menschen gelernt.“

Dr. Martin Auerbach wurde als Kind von Überlebenden des Holocaust in Wien geboren und ist seit 2007 Klinischer Leiter von AMCHA Israel. Er ergänzt: „Solange es Menschen gibt, die jemanden brauchen, der aktiv zuhört und nicht weghört, so lange ist AMCHA nötig. Direkt nach der Befreiung ging es für viele erst einmal um das Überleben nach dem Überleben: darum, einen sicheren Lebensort zu finden, eine Familie zu gründen, Bildung nachzuholen. Wichtig sei es, den Überlebende Würde entgegenzubringen. „Die Bearbeitung der Traumata ist ein Prozess, der ein Gegenüber benötigt, der dem Überlebenden mit Würde begegnet und dessen Leidensgeschichte glaubt. Noch heute nimmt man Kriegsopfern ihre Leidensgeschichten nicht ab. Es ist nicht die rein physisches Präsenz eines Menschen, die gegen die Einsamkeit hilft. Entscheidend ist, dass Menschen der emotionalen Einsamkeit der Opfer begegnen.“

Ihm pflichtet der Traumataexperte Prof. Dr. David Becker bei, der auf die langjährigen Folgen der Verfolgung aufmerksam machte: „Erlittenes Leid stellt sich nicht einfach als psychische Krankheit dar. Es ist auch falsch, davon auszugehen, dass sobald man aus dem Konzentrationslager heraus ist oder die unmittelbare Gewalt endet, das Trauma vorbei ist. Die Traumata, auch aus früher Kindheit, wirken bis heute. Traumata sind nicht von Zusammenbruch geprägt, vielmehr findet eine kontinuierliche Traumatisierung statt, die auch den Umgang der Gesellschaft mit dem Leid einschließt. Entsprechend ist die Bearbeitung und Aufarbeitung dieser eine Gegenwartsfrage. Ein zentraler Punkt für die Arbeit mit Überlebenden ist, dass diese von der Passivität in die Aktivität kommen müssen.“

AMCHA, gegründet 1987 als Selbsthilfeorganisation von Überlebenden für Überlebende, stärkt diesen Gedanken in den Zentren und in den Therapien bis heute.

Volker Beck, grüner Bundestagsabgeordnete und Träger des Leo-Baeck-Preises 2015, engagiert sich seit Jahrzehnten für die Reparation und Entschädigung Verfolgter des Nationalsozialismus. „Manche stecken es einfach weg, andere benötigen Betreuung bei der Aufarbeitung und Bewältigung von Traumata.“ Mit Blick auf die zögerliche Bereitstellung von öffentlichen Geldern für Opfer des Holocaust sagte er: „Mein Eindruck ist, wir fangen jedes Jahr wieder von vorne an“. Im Januar diesen Jahres hatte er mit einer Kleinen Anfrage die Bundesregierung über die Entschädigung von nachfolgenden Generationen befragt, die oftmals Schädigungen vererbt bekommen haben. Er begrüßte es, wenn sich Kirchengemeinde oder Landeskirchen für Überlebende des Holocaust einsetzten. Sinnvoll sei es aber, dies in Zusammenarbeit mit Organisationen wie AMCHA zu tun, die die nötige Erfahrung und Professionalität hätten. „So etwas lernt man nicht unmittelbar im Psychologiestudium“, sagte Beck gegenüber dem Nachrichtenportal Israelnetz.

Hier finden Sie Medienberichte über die Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum Berlin:
Jüdische Allgemeine
Israelnetz

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