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27. Oktober 2019, Bonn: Rede von Helena Schätzle anlässlich der Eröffnung von “Leben nach dem Überleben”

Dokumentation der Rede von Helena Schätzle anlässlich der Ausstellungseröffnung von “Leben nach dem Überleben” in Bonn am 27. Oktober 2019

„Ich auch?“ fragte es leise, penetrant in mir. „Bin auch ich zu solcher Grausamkeit fähig? Meine Familie? Die Deutschen? Wir alle? Sind die Menschen so? Und warum?“ ruft es in mir. „Wie kommt es, dass niemand den Menschen in ihnen gesehen hat? Wie groß muss das Leid sein, um hinzuschauen? Wegzuschauen? Und fühle ich mich schuldig?“

Leider ist das Grauen etwas zutiefst menschliches und nichts, was sich einzig in der Vergangenheit verorten lässt.
Geschockt hörte ich von dem versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle. Geschämt habe ich mich. Ich musste daran denken, was mich Elias, der heute 102 Jahre ist, bei einer unserer letzten Begegnungen fragte. Wäre es für ihn heutzutage möglich mit seiner Kippa öffentlich in Deutschland spazieren zu gehen? Schon damals kam mir kein Ja über die Lippen.

Doch wie kann es möglich sein, dass wir als Menschheit so wenig lernen aus der Vergangenheit? Wie kann es sein, dass heutzutage Menschen erneut oder immer noch um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie sich zu ihrer Religion bekennen? So viel Hass und Vorurteile einzig auf Grund ihrer jüdischen Zugehörigkeit. Es löst große Trauer in mir aus, dass Menschen, so sehr entmenschlicht werden, als nicht lebenswert erklärt.

Und ich erinnere mich an das was die heute 92 jährige Giselle mir anvertraute. Zum Shabbatessen eingeladen bei ihr zu Hause, sagte sie, mit Tränen in den Augen zu mir:
„Ich möchte verstehen, warum die Leute von der SS in mir nie einen Menschen sehen konnten. Habe ich keine Augen und keine Nase und kein Gesicht wie jeder andere auch? Sogar jetzt noch weine ich, wenn ich daran denke.“
Uns es erschreckt mich, wenn ich an meinen eigenen Bekannten und Freundeskreis denke. Von den allermeisten bekam ich ihren jüdischen Hintergrund erst mit, als sie durch meine Arbeit mit Amcha merkten, dass ich mich intensiv mit dem Holocaust auseinandersetze. Es ist beschämend, dass so viele Jahre später die Angst weiter mitlebt, dass es sich sicherer anfühlt, sich versteckt zu halten. Dass wir es über 70 Jahre später nicht schaffen ein Land zu sein, das jüdischen Menschen offen und herzlich begegnet.

Und es beschämt mich, wenn ich daran denke, wie ich als Enkelin von Wehrmachtssoldaten und Parteiangehörigen in Israel von Überlebenden des Holocaust empfangen wurde. Wie kommt es, dass mir kein einziges Mal mit Abneigung begegnet wurde? Wie können Menschen, die so viel Hass erfahren haben, so viel Liebe geben? Stimmt es, dass nur durch selbsterfahrenes Leid Mitgefühl entstehen kann?

Vielleicht ist es wie der Überlebende Yehuda Bacon mir sagte:
„Wer in der Hölle war weiß, dass es zum Guten keine Alternative gibt.“
Er wie auch alle anderen Überlebenden mit denen ich arbeiten durfte appellieren an unsere Verantwortung heute, immer weiter wach zu bleiben und über die Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen, um Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz die Stirn zu bieten. Damit wir uns für ein Miteinander in Frieden einzusetzen.

So wünsche ich mir eine Welt mit lauter Pnina’s, die sich entschied nach 18 Jahren des Hasses, mit ihrer Ankunft in Israel nur noch die Liebe in ihrem Leben zu leben. Egal wer vor ihr steht, welcher Religion, Herkunft, Hautfarbe. Der Sinn ihres Lebens besteht darin anderen zu geben.

Sie sagte mir:
“Ich kann nicht hassen.
Ich liebe das Leben, ich liebe Menschen.
Ich sehe das Menschliche in jedem.
Was immer ich geben kann,
mit Liebe – jedem Menschen,
das tut mir gut.
Und ich glaube, das ist meine Reaktion
auf all das Schlechte, was Leute getan haben.”
Es zeigt sich, das wir uns immer wieder entscheiden können, entscheiden müssen, auf wessen Seite wir stehe. Experimente zeigen, dass eine einzige Person, die mit positiven Beispiel vorangeht, Zivilcourage zeigt, bewirkt, dass plötzlich 40% der anwesenden Menschen sich ein Beispiel nehmen und ebenfalls aufstehen.

Und manchmal sind wir in der Verantwortung dieser eine Mensch zu sein.

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