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“Wer lebt noch, der meine Erfahrungen mit mir teilt?” – Umgang mit traumatisierenden Erfahrungen der Shoah im Alter

Ein Beitrag von Lukas Welz

Bei meinem letzten Besuch in Jerusalem vor zwei Wochen konfrontierte mich Giselle Cycowicz mit dieser Frage. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit befalle sie zuweilen, trotz dreier Kinder und der stolzen Zahl von 21 Enkeln und 9 Urenkeln. Vielen ihrer Klienten ginge es jetzt so. Besonders schwierig sei es für jene, das Älterwerden auszuhalten, die allein in ihrer Wohnung lebten oder in einem Seniorenheim. Giselle arbeitet noch immer als Psychologin für AMCHA. Mit 92 Jahren ist sie die älteste Mitarbeiterin.

Mit 17 Jahren, im März 1944, wurde sie zusammen mit ihren Eltern und ihren zwei Schwestern nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Aber, was heißt das, nach Auschwitz deportiert zu werden, eingepfercht im Viehwaggon? Wer kennt die Gerüche, das Gefühl, wie sich der zerriebene Holzboden anfühlte, wer kennt die Gespräche und die Namen der Sterbenden neben dir, wer kennt die Angst? Dann, mitunter nach Tagen, wurde die Tür des Waggons geöffnet. Was war das für ein Ort, wo hatte man uns hingebracht, was wird nun mit uns geschehen?

Täglich besucht Giselle ihre Klienten, Lisa, Erika oder Rosi. Auch Rosi war in Auschwitz. Als sie die Therapeutin vor einigen Jahren kennenlernte fasste sie sofort Vertrauen. Da war die gleiche Sprache, Ungarisch. Aber vor allem war sie wie sie in Auschwitz: „Da muss man nichts erklären“, sagt Rosi.

Auch für die Therapeutin selbst, für Giselle, ist das Beisammensein mit Rosi, Lisa oder Erika bedeutend mehr als eine therapeutische Sitzung, viel persönlicher und elementarer. Auch sie scheint sich mit ihren Leidens- und Erfahrungsgefährtinnen selbst am nächsten zu sein, fühlt sich durch die Erfahrungswelt, die sie teilen, verstanden.

Und zugleich beeindruckt mich an ihr immer wieder ihr nimmermüder Tatendrang, ihre Freude am Leben und an den Menschen. Am 22. Dezember, dem ersten Tag des Lichterfestes Chanukka, wird sie zusammen mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln, die erste Kerze anzünden.

Im Namen aller Mitarbeitenden in Deutschland und Israel danke ich Ihnen von Herzen, dass Sie durch Ihre Hilfe und Förderung die erfolgreiche Arbeit von AMCHA zum Wohl der Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen Jahr für Jahr ermöglichen.

Ihnen und Ihren Angehörigen wünsche ich schöne Feiertage und ein friedliches und gesundes neues Jahr!

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