Jüdische Perspektiven auf die deutsche Einheit und die Transformation 1989/90

Drei Jahrzehnte nach der deutsch-deutschen Vereinigung, der Friedlichen Revolution und dem Mauerfall haben sich diese Ereignisse im kollektiven Gedächtnis verankert. Jubiläen bieten auch die Möglichkeit, innezuhalten und zu überlegen: Was wird da eigentlich erinnert – und wie? Wer erinnert, wer feiert überhaupt? Und wer nicht?

Jüdische Gegenerinnerungen bieten die Perspektive, sich 1989/90 mit neuen Fragen zu nähern. So prägten die Erfahrungen der Generation, die das nationalsozialistische Deutschland noch erlebt und überlebt hatte, die Sorgen und Herausforderungen, die Jüdinnen*Juden in der Umbruchszeit zu bewältigen hatten. Brennende Flüchtlingsunterkünfte und zerstörte jüdische Friedhöfe verstärkten diese Ängste.
Gleichzeitig änderte sich unter der letzten DDR-Regierung das Verhältnis zu Israel und die Aufnahme von sowjetischen Jüdinnen*Juden sicherte das Überleben vieler Gemeinden - und veränderte sie nachhaltig.
Der Kanon vielfältiger jüdischer Erinnerungen an diese gesellschaftlichen Transformationen hat das Potential, die sich verfestigenden deutsch-deutschen Erfolgserzählungen von 1989/90 zu irritieren, zu ergänzen und herauszufordern. Und das schon durch die Vielfalt jüdischer Lebenswelten in Ost und West, aber auch durch eine kritische Perspektive auf die Mehrheitsgesellschaft.

Lukas Welz über AMCHA Deutschland e.V.

Lukas Welz spricht in seinem Grußwort über die Geschichte der Gründung von AMCHA Deutschland e.V. im Umbruch von 1989/90.

Alisa Gadas über Gegenerinnerung/en

Die Projektleiterin Alisa Gadas über die Idee hinter dem Projekt.

Grußwort von Petra Pau

Als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und als Innenpolitikerin der Fraktion DIE LINKE sind ihre Pro-Themen Bürgerrechte und Demokratie und ihre Contra-Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.

Grußwort von Dr. Anja Siegemund

Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum

„Umbruchzeiten bieten bisweilen Sternstunden, Momente in denen lang gehegte Vorstellungen plötzlich akut werden.“

Peter Fischer beschreibt die Bemühungen einzelner, in den späten 1980er Jahren ein Bewusstsein für die humanitäre Verantwortlichkeit gegenüber den Überlebenden der Shoa zu schaffen. Der Text „Am Eisloch fischen“ erschien 2012 im Sammelband „Was bleibt von der Shoa? Kontext, Praxis, Nachwirkungen“, hg. von Maria Halmer, Anton Pelinka, Karl Semlitsch. → Weiterlesen

DEUTSCH-DEUTSCHE ERFOLGSGESCHICHTE ODER DEUTSCH-DEUTSCHER TAUMEL?

Die eine jüdische Perspektive auf 1989/90 gibt es nicht. Jede*r erlebt ihr*sein Jüdisch-Sein zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten anders. Historische Zäsuren führen nicht nur auf politischer Ebene zu Veränderungen, sondern auch zur Neubewertung und -positionierung des Selbst. Hier kommen Protagonist*innen zu Wort, die ihr Jüdisch-Sein in Ost-Berlin und im Umbruch auf ganz unterschiedliche Art und Weise wahrnahmen.
Die sechs Interviewten eint, dass sie sich in kaum einem Punkt einig sind. Die DDR, oder genauer, ihr Zusammenbruch, werden in jeder Biografie jeweils anders gedeutet: Die „Wende“ konnte Befreiungsmoment und Aufbruch bedeuten, genauso wie den Verlust von Heimat und der Sicherheit eines Staates, der sich selbst als antifaschistisch begriff.
Ein gemeinsamer Nenner findet sich in den Erinnerungen trotzdem - 1989 stand für sie die Welt nicht etwa plötzlich still. Die Zeit des Umbruchs war auch eine Zeit des Aufbruchs – zu neuen beruflichen und kreativen Zielen, zu Engagement in politischen, kulturellen und religiösen Fragen.

Gegensätzliche Erinnerung?

Für Individuen erlangen historische Ereignisse und Zusammenhänge Bedeutung unter anderem in Abhängigkeit von ihrer Biografie und ihrem familiären Hintergrund. Welche unterschiedlichen Deutungen selbst ähnliche Lebenswege zulassen, wird in den von Olaf Glöckner geführten Interviews mit Salomea Genin und Wolfgang Herzberg deutlich.

Geschichte und sich selbst neu verhandeln

Annette Leo

Die letzten Jahre der DDR und der Herbst 1989 waren für Annette Leo eine aufregende Zeit. Doch die begann nicht erst am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, sondern schon Mitte der 1980er Jahre: Sowohl beruflich, als auch privat setzte die Historikerin sich zunehmend mit jüdischen Themen auseinander, so zum Beispiel in der 1986 gegründeten Gruppe „Wir für uns – Juden für Juden“ unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde.

Vom neuen Leben und alten Ängsten

Jalda Rebling

Jalda Rebling hat es satt, dass Dokumentationen über jüdisches Leben immer nur Friedhöfe zeigen. Trotzdem traf sie sich mit uns zum Interview auf dem Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße, auf dem „Guten Ort“, wie sie sagt. Dort erzählt sie von dem bunten und lauten jüdischen Leben der 1990er Jahre rund um den Friedhof in Berlins Mitte, sowie von der Freude des Jüdisch-Seins. Der Umbruch 1989/90 löste bei ihr gemischte Gefühle aus: Die Zeit des politischen Wandels und der Partizipation schien vielversprechend, aber nationalistische Tendenzen und die Vorstellung von einem vereinten Deutschland machten ihr Angst.

Auch eine jüdisch-jüdische Vereinigung

Eva Nickel

Am 9. November 1989 geriet Eva Nickel mit ihrem Trabi in die sich stauenden Menschen- und Automassen auf der Schönhauser Allee in Richtung Bornholmer Straße. Als sie am nächsten Tag begriff, was das bedeutete, war sie erleichtert: Endlich konnte sie ihre Familie in Westdeutschland, in den USA und in Israel besuchen. Auf die Erleichterung folgte aber zunehmend die Sorge, es würde mit der Vereinigung ein „Viertes Reich“ entstehen. Im Interview spricht sich nicht nur über den deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, sondern auch die Zusammenführung der beiden jüdischen Gemeinden in Berlin, die sie als Gemeindemitglied und als Sozialarbeiterin erlebte.

Umbruch und Aufbruch

Irene Runge

Der gesellschaftliche Umbruch brachte für Irene Runge auch die Möglichkeit, die entstehenden Leerstellen zu füllen: 1990 gründete sie den jüdischen Kulturverein und engagierte sich am Runden Tisch für die Aufnahme von Jüdinnen*Juden aus der Sowjetunion. Sie beobachtete auch, wie sich jüdisches Leben veränderte, vielfältiger wurde und sich von den festgefahrenen Vorstellungen löste, wie jüdisches Leben auszusehen hat.

DEUTSCH-DEUTSCHE ERFOLGSGESCHICHTE ODER DEUTSCH-DEUTSCHER TAUMEL?

Die eine jüdische Perspektive auf 1989/90 gibt es nicht. Jede*r erlebt ihr*sein Jüdisch-Sein zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten anders. Historische Zäsuren führen nicht nur auf politischer Ebene zu Veränderungen, sondern auch zur Neubewertung und -positionierung des Selbst. Hier kommen Protagonist*innen zu Wort, die ihr Jüdisch-Sein in Ost-Berlin und im Umbruch auf ganz unterschiedliche Art und Weise wahrnahmen.
Die sechs Interviewten eint, dass sie sich in kaum einem Punkt einig sind. Die DDR, oder genauer, ihr Zusammenbruch, werden in jeder Biografie jeweils anders gedeutet: Die „Wende“ konnte Befreiungsmoment und Aufbruch bedeuten, genauso wie den Verlust von Heimat und der Sicherheit eines Staates, der sich selbst als antifaschistisch begriff.
Ein gemeinsamer Nenner findet sich in den Erinnerungen trotzdem - 1989 stand für sie die Welt nicht etwa plötzlich still. Die Zeit des Umbruchs war auch eine Zeit des Aufbruchs – zu neuen beruflichen und kreativen Zielen, zu Engagement in politischen, kulturellen und religiösen Fragen.

Umbruch und Aufbruch

Irene Runge

Der gesellschaftliche Umbruch brachte für Irene Runge auch die Möglichkeit, die entstehenden Leerstellen zu füllen: 1990 gründete sie den jüdischen Kulturverein und engagierte sich am Runden Tisch für die Aufnahme von Jüdinnen*Juden aus der Sowjetunion. Sie beobachtete auch, wie sich jüdisches Leben veränderte, vielfältiger wurde und sich von den festgefahrenen Vorstellungen löste, wie jüdisches Leben auszusehen hat.

Auch eine jüdisch-jüdische Vereinigung

Eva Nickel

Am 9. November 1989 geriet Eva Nickel mit ihrem Trabi in die sich stauenden Menschen- und Automassen auf der Schönhauser Allee in Richtung Bornholmer Straße. Als sie am nächsten Tag begriff, was das bedeutete, war sie erleichtert: Endlich konnte sie ihre Familie in Westdeutschland, in den USA und in Israel besuchen. Auf die Erleichterung folgte aber zunehmend die Sorge, es würde mit der Vereinigung ein „Viertes Reich“ entstehen. Im Interview spricht sich nicht nur über den deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, sondern auch die Zusammenführung der beiden jüdischen Gemeinden in Berlin, die sie als Gemeindemitglied und als Sozialarbeiterin erlebte.

Vom neuen Leben und alten Ängsten

Jalda Rebling

Jalda Rebling hat es satt, dass Dokumentationen über jüdisches Leben immer nur Friedhöfe zeigen. Trotzdem traf sie sich mit uns zum Interview auf dem Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße, auf dem „Guten Ort“, wie sie sagt. Dort erzählt sie von dem bunten und lauten jüdischen Leben der 1990er Jahre rund um den Friedhof in Berlins Mitte, sowie von der Freude des Jüdisch-Seins. Der Umbruch 1989/90 löste bei ihr gemischte Gefühle aus: Die Zeit des politischen Wandels und der Partizipation schien vielversprechend, aber nationalistische Tendenzen und die Vorstellung von einem vereinten Deutschland machten ihr Angst.

Geschichte und sich selbst neu verhandeln

Annette Leo

Die letzten Jahre der DDR und der Herbst 1989 waren für Annette Leo eine aufregende Zeit. Doch die begann nicht erst am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, sondern schon Mitte der 1980er Jahre: Sowohl beruflich, als auch privat setzte die Historikerin sich zunehmend mit jüdischen Themen auseinander, so zum Beispiel in der 1986 gegründeten Gruppe „Wir für uns – Juden für Juden“ unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde.

DISKUSSION

„Jahrestage für Alle? Jüdische Gegenerinnerungen an 30 Jahre deutsche Einheit“

Mit Enrico Heitzer, Anetta Kahane, Sharon Adler und Ilko-Sascha Kowalczuk.

Gefördert aus Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Berliner Beauftragten für die Aufarbeitung der SED Diktatur.

​In Zusammenarbeit mit der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.