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Februar 2021: Rachel Kostanian, litauische Überlebende und Aktivistin der Holocaust-Erinnerung, mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt

Ehrung der litauischen Überlebenden der Shoah für ihr langjähriges Wirken für die Erinnerung an die Verbrechen

Rachel Kostanian wurde am 9. Februar 2021 in Berlin mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland für Ihr lebenslanges Wirken um die Erforschung und Erinnerung an die Shoah in Litauen ausgezeichnet.

Rachel Kostanian überlebte als Jüdin die Shoah durch Umsiedlung in die UdSSR mit ihrer Mutter. Erst die Perestroika ermöglichte es ihr nach Vilnius zurückzukehren, zu ihren jüdischen Wurzeln zu finden und sich für den Erhalt und die Bewahrung des Erbes des in Litauen fast völlig zerstörten Judentums einzusetzen.

Wie kaum eine zweite Litauerin blieb sie über den Systemwechsel (nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit) hinweg unbeugsam der historischen, sehr schmerzhaften Wahrheit über Nazi-Kollaboration verpflichtet. Sie stand mit Ihrer Person dafür ein, Aufklärung, Forschung und das Erinnern an die Shoah zu fördern und voranzutreiben. Sie wehrte sich gegen jede Form der Instrumentalisierung, Leugnung und Unterdrückung von Fakten.
Gründerin des Green House Holocaust Museum
Als Mitbegründerin und langjährige Direktorin des Green House in Vilnius, dem einzigen ausschließlich der Shoah gewidmeten Museum in Litauen, hat sie zusammen mit Persönlichkeiten wie Fania Brantsovksy und Rachel Margolis einen Ort geschaffen, der diesen Prinzipien verpflichtet ist. Das Green House ist allein der Darstellung jüdischen Lebens in Litauen und seiner Vernichtung durch das Deutsche Reich und seine Kollaborateure gewidmet. Rund 95 Prozent der litauischen jüdischen Bevölkerung wurden zwischen dem 22. Juni 1941 bis 1945 ermordet; die meisten bereits in den ersten Monaten.

Am 9. Februar wurde Rachel Kostanian das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. In Vertretung des Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier überreichte Andreas Görgen, Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, den Orden pandemiebedingt im privaten Rahmen.

Ihrer unbeugsamen Wahrheitspflicht gegen die Bestrebungen, Kollaborateure und Täter, solange sie antisowjetische waren, reinzuwaschen, stärkten die internationale Anerkennung für das kaum staatliche finanzielle Unterstützung erhaltende Green House, das unter ihrer Leitung als quasi autonome Einheit des viel größeren jüdischen Staatsmuseums internationale Anerkennung erlangte. Als litauische Jüdin, die unter der nationalsozialistischen Besatzung viele Angehörige, darunter ihren Vater, verloren hat, ist ihr Einsatz für die Aufarbeitung der Shoah vorbildlich, ihre Verdienste singulär.
Würdigung nach Jahrzehnten des Schmerzes
Rachel Kostanian: „Leider war und ist man in Litauen ist nicht so glücklich mit der Arbeit, die wir im Green House geleistet haben. Ich bin also nicht so sehr an solche Ehrungen und Aufmerksamkeiten gewöhnt. Umso mehr schätze ich diese Würdigung nach Jahrzehnten des Schmerzes und der Tränen.“

Dovid Katz: „Drei Jahrzehnte lang hat Rachel Kostanian eine einzigartige und inspirierende Rolle in der Holocaust-Erinnerung und -Erziehung gespielt und wurde gleichzeitig zu einer wichtigen Figur im Kampf um die Deutung der Geschichte in einer Zeit des Revisionismus, die einen Großteil des postsowjetischen Osteuropas überschwemmte. Mit jugendlichem Elan und unbeirrbarer, gelassener Hartnäckigkeit baute sie das Green House Museum, das einzige authentische Holocaustmuseum Litauens, zu einer lokalen und internationalen Adresse des Wissens, des Lernens und der Reflexion auf.

Selbst als sie gegen Wellen des Revisionismus ankämpfen musste und nicht selten selbst zur Zielscheibe wurde, ließ sie sich nicht von ihrer Mission abbringen, die Tausenden von litauischen Schulkindern, die das Museum besuchten, und Tausende weitere Besucher aus allen Teilen der Welt zu unterrichten. Sie bestand auf einem Raum, der ausschließlich der jiddischen Zivilisation der Vorkriegszeit gewidmet war, sowohl der religiösen als auch der säkularen des litauischen Judentums, für sie notwendiger Bestandteil eines Holocaust-Museums.

Solange es sie gab, versammelten sich die Überlebenden in Vilnius gerne dort auf eine Tasse Kaffee und ermöglichten so den Besuchern direkt Zeugnis über die Shoah zu geben und ihre Fragen zu beantworten. Vieles von Rachels Schaffen – Publikationen, Ausstellungen, Filme, aufgezeichnete Führungen und Vorträge – muss dringend gesammelt und für die kommenden Generationen erhalten werden. Und was mich persönlich betrifft, so vergesse ich nie, dass sie meine erste Lehrerin und Mentorin in der Verteidigung der Geschichte war.“
Stärkung jüdischer Identität und Notwendigkeit selbstkritischer Auseinandersetzung
Lukas Welz: „Rachel Kostanian suchte und fand, sammelte und bewahrte Zeugnisse früheren jüdischen Lebens in Litauen, machte wichtige Quellen zur Shoah und zum jüdischen Vilnius zugänglich. In der post-sowjetischen Zeit, als die jüdische Identität wieder sichtbarer werden durfte, förderte sie die Anerkennung des Schicksals anderer Überlebender der Shoah in Litauen.

Sie trägt mit ihrer Arbeit seit Jahrzehnten wesentlich zum tieferen Verständnis der Shoah in Litauen mit all ihren Facetten bei und ermutigte mit ihrem Wirken Jüdinnen und Juden, Überlebende und Nachkommen, sich stärker und selbstbewusster mit ihrer jüdischen Identität auseinanderzusetzen. Diese Auszeichnung in einer Zeit zunehmender Relativierung und Leugnung der Shoah ehrt nicht nur Kostanians Wirken. Sie setzt auch ein deutliches Zeichen für die Notwendigkeit einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Shoah über Generationen hinweg.“

Über Rachel Kostanian
Rachel Kostanian wurde als einziges Kind von Yosif und Bluma Zivelchinsky im polnischen Wilno (heute Vilnius) geboren. Ihr Vater war Jurist und arbeitete nach der sowjetischen Besatzung Litauens ab Juni 1940 als Richter in Šiauliai. Mutter und Tochter blieben im sowjetisch besetzten Vilnius.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde Rachel mit ihrer Mutter gemeinsam mit anderen Familien sowjetischer Beamter in die Sowjetunion gebracht. Sie lebten in Gorki bis Rachel, aufgrund der schlechten Versorgungslage in der Sowjetunion, mit 200 anderen litauischen, jüdischen und nichtjüdischen Kindern in ein Kinderheim im Ural verschickt wurde. Erst Ende 1944, nach dem Vormarsch der Roten Armee in den Westen, kam sie zurück nach Gorki und traf ihre Mutter wieder.

Nach Kriegsende kehrten Mutter und Tochter nach Vilnius, als Hauptstadt der Sowjetrepublik Litauen, zurück. Sie erfuhren erst hier, dass Ehemann und Vater, Yosif Zivelchinsky, bereits in der frühen Besatzungsphase ermordet worden waren.

Ihre Mutter Bluma Zivelchinsky arbeitete in einer Bibliothek, wo Rachel ihre freie Zeit nach der Schule verbrachte. Nach Beendigung des Gymnasiums absolvierte sie ein Jurastudium. Der Beruf als Juristin sollte ihr als Jüdin in der Sowjetunion jedoch verschlossen bleiben. Sie schloss ein weiteres Stud ium der englischen Sprache am Pädagogischen Institut in Vilnius ab und lernte ihren zukünftigen Ehemann kennen. Nach der Hochzeit zogen beide in seine Heimat Armenien. 1960 kehrte die Familie nach Vilnius zurück. Rachel Kostanian arbeitete als Übersetzerin.
Post-sowjetische Transformationen
Ein Ereignis im Jahr 1987 änderte ihr Leben grundlegend. In Kaunas, etwa 80 km von Vilnius entfernt, eröffneten Überlebende des Ghettos in Kaunas, die auch in der litauischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert waren, zum ersten Mal eine Ausstellung zum früheren jüdischen Leben. Bislang nur im Privaten gelebte Praktiken und die Trauer um die in der Shoah Ermordeten trafen zum ersten Mal auf eine interessierte Öffentlichkeit. Überlebende trafen zum ersten Mal aufeinander.

1989 genehmigte die sowjetisch-litauische Regierung im Prozess der Perestroika die Gründung einer Jüdischen Kulturellen Gesellschaft, die unter anderem den Aufbau eines Jüdischen Museums in Angriff nahm. Rachel Kostanian wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin. Gemeinsam mit anderen Überlebenden der Shoah erstellten sie die erste Ausstellung zur Erinnerung an die in der Shoah ermordeten Juden und die jüdischen Kultur Wilnas aus der Vorkriegszeit. Das Green House, ehemals Museum der Oktoberrevolution von 1917, wurde 1991 eröffnet. Die litauische Regierung rückübereignete der jüdischen Gemeinde zwei weitere Gebäude. Das kleine, versteckt liegende hölzerne Green House ist bis heute das einzige ausschließlich der Shoah gewidmete Museum der Stadt.

1996 veröffentlichte sie gemeinsam mit Salomonas Atamukas die Geschichte des Jüdischen Museums in Wilna/Vilnius, The Jewish State Museum of Lithuania. 2002 erschien ihre Monografie The Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto. Eine Sammlung von im Ghetto produzierten Plakaten erschien unter dem Titel Vilna Ghet to Posters (1999 und 2006).
Bildrechte: Florian Krauß für AMCHA Deutschland e.V.
 

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